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Erinnerungen II - Als ich in die Schule kam

I von Minna Eichhorn


Nach Ostern wurden wir eingeschult. Wir waren in unserem Jahrgang sechs Kinder, vier Buben und zwei Mädchen. Auch meine Mutter hatte mir eine sehr schöne Schultasche genäht. In dieser Zeit konnte man ja keinen Schulranzen kaufen. Und endlich war dann der Tag da. Ich glaube, meine Begeisterung hielt sich in Grenzen. Die Ermahnungen meiner Mutter hatten mich etwas stutzig gemacht: Daß man da schön zuhören muß, brav an seinem Platz bleiben muß und lauter so gut gemeinte Ratschläge. Der erste Schultag war ja eigentlich sehr schön. Unsere Mütter gingen mit, unterm Arm ein Kuchenblech, auf dem eine wunderschöne große Brezel lag. Der Lehrer hat uns dann in die Bänke eingeordnet und da gab es das erste Problem: Das waren Klappstühlchen. Er hat ein Liedchen mit uns gesungen und das hat sich ja wohl vielstimmig angehört, aber dem Lehrer hat es gefallen. Dann hat er uns noch ein Geschichtchen erzählt und der erste Schultag war schnell vorbei. Unser Lehrer war ein sehr netter Mann und so weit ich mich erinnern kann, hat es keine besonderen Schwierigkeiten gegeben. Wir bekamen Schulaufgaben auf und es machte ja Spaß, mit dBlick in den alten Rohnstädter Schulsaalen Griffeln auf die Tafeln zu schreiben. Nur mußte man vorsichtig sein. Sie durften nicht hinfallen, dann brachen sie kaputt. Wenn ich dann nach Hause kam, mußte dann als erstes das Schulzeug ausgezogen werden. Auf das Schulkleidchen wurde noch ein Schürzchen angezogen, damit es lange recht schön blieb. Zum Wechseln hatte man ja nichts und wir waren auch damit zufrieden, wir wußten es ja nicht anders. Es war oft ein Kind aus dem ältesten Jahrgang, welches mit uns Kleinen lesen mußte. Wir waren ja acht Jahrgänge in einem Raum und der Lehrer hatte bestimmt eine schwere Aufgabe, um alle gleichermaßen zu beschäftigen. Aber nachmittags haben wir unsere Freizeit voll ausgekostet. Es war Sommerzeit, und die Kirschen am neuen Weg waren fast reif und das wollten wir uns nicht entgehen lassen. Die Bäume gehörten der Gemeinde und wurden, wenn's Zeit war, versteigert und was übrig war, das war hier und da noch was für die Vögel. Wir waren zu sechst; da gab es kein großes Bedenken und die Kirschen waren ja auch zu verlockend. Nur die Kirschen, die unten hingen, wo die Sonne nicht hinkam, waren noch nicht reif. Doch der Oswald hatte bald festgestellt, daß die Kirschen oben im Baum viel besser waren und auf einen Baum zu klettern, das war doch kein Problem. Und so kam es: Die beiden Buben kletterten auf den Baum und ich hinterher. So schöne Kirschen gab es da oben und ich brach Ästchen ab und ließ sie runter fallen, damit die, die unten geblieben waren, auch was abbekamen. Aber es dauerte nicht lange, da schrie eins von den Kindern: "Laaft, de Schitz kimmt!". Ja, die, die unten waren, konnten entkommen. Aber wir drei oben im Baum? Die Buben kletterten den Stamm herunter, und der Schitz nahm sie in Empfang und der hat doch an Ort und Stelle ihnen ihre Strafe verpaßt. Ich dachte: "Nur das nicht!". Von oben gesehen war auf der Böschung langes Gras. Ich rutschte auf einem Ast nach außen und landete in einer Dornenhecke. Ich habe mich, so schnell ich konnte, befreit und bin weggelaufen. Mein Rock war zerrissen und ich war total zerkratzt und der Schitz schrie hinterher: "Wott nur, dich laats Oas, dich erwisch eich aach noch emoal!"

Wenn ich dann wieder mal so eine Dummheit begangen hatte, dann brauchte ich jemanden, dem ich mich anvertrauen konnte. Meistens war's der Großvater. Abends, wenn es dunkel war, dann mußte ich ihm nicht in die Augen sehen. Ich hatte dann so ein schlechtes Gewissen, weil ich ja immer wieder versprach, artig zu sein. Wenn ich dann bei den anderen war, hatte ich alle guten Vorsätze vergessen. Nicht, daß ich andere wegen Anstiftung beschuldigen will, o nein, dazu brauchte ich niemanden. Wenn's drauf ankam, hielten wir zusammen wie Pech und Schwefel. Langeweile hatten wir nicht, nur wußten wir nie, wie das Ende von dem, was wir so taten, aussah und alle Ermahnungen und Verbote wurden dann außer Acht gelassen.

In der Mitte von unserem Dorf war der Poul (Weiher). Rundum war eine alte Bruchsteinmauer, ein paar Stützen und ziemlich verrosteter Maschendraht. Vorn war ein Eisentürchen, das ja fast immer offen stand. An dieser Stelle war das Wasser flach und wir haben oft dort gespielt. Aber nach hinten war das Wasser dunkel und bestimmt sehr tief. Wir hatten von Papier kleine Schiffchen gebastelt und versuchten, sie im Wasser schwimmen zu lassen. Aber das Papier saugte sich voll Wasser und die Schiffchen kippten um. Da lag doch im Speecht's Hof ein Stück Eichenstamm mit Rinde. Wir haben die Rinde ganz vorsichtig abgemacht. Der Oswald hatte ein Taschenmesser und hat für jeden ein Schiffchen geschnitzt. Wir haben sie ins Wasser getan, aber die bewegten sich halt nicht weiter. Wir haben einen Stock genommen und das Wasser bewegt. Und tatsächlich, das klappte; sie schwammen langsam mit den Wellen, die wir mit  dem Stock zustande brachten, über den Poul an die gegenüberliegende Mauer. Genau da hin, wo das Wasser so tief war. Da war nun guter Rat teuer. Wir haben nun überlegt: Wenn man das Wasser an der anderen Seite bewegt, müßten sie ja wieder zurück schwimmen. Not macht erfinderisch. Der Oswald stieg in Christjahn's Garten und holte zwei Bohnenstangen. Der Oswald, ja, der war mutig; aber niemand war bereit, mit ihm über die Mauer bis auf die andere Seite zu gehen. Ich hab mir die zweite Stange genommen und bin, ohne ein Wort zu sagen, hinterher auf die brüchige Mauer geklettert. Ich muß sagen, mir war's ganz schön schwummerig. Hier und da bröckelten Steine ins Wasser und es hat auch eine ganze Zeit gedauert, bis wir an Ort und Stelle waren. Da sagte am Türchen eins von den Kindern ganz laut: "Bäppler'sch Petter kimmt!", und alle rannten weg. Irgend jemand hatte meinen Vater gerufen. Er war ganz ruhig, ging in Speecht's Hof hoch bis an die obere Ecke. Er sprach ganz ruhig auf uns ein und half uns über den Zaun. Ohne ein Wort zu sagen, ging er mit großen Schritten vor mir her. Ich hätte ihm so gern gesagt, daß ich's nie wieder tun werde. Ich konnte aber gar nichts sagen, mein Vater kam mir so fremd vor. Als wir zu Hause waren, legte er mich kurz übers Knie, und er sagte: "Daß du es nie vergißt, daß du alles, was verboten ist, nicht tun darfst." Ich verkrümelte mich in die Stube. Da saß mein lieber Großvater, und dicke Tränen rollten in seinen weißen Bart. Das hat mir weh getan, mehr als die Schläge, daß mein Großvater wegen meinem Ungehorsam geweint hat. Wir haben abends noch lange im Dunkeln zusammen gesprochen und gebetet, daß der Schutzengel mich in der großen Gefahr behütet hat. Ich habe niemandem etwas davon erzählt, nicht mal der Paula, meiner besten Freundin. Zu Hause hat man mir über das, was geschehen war, keine Vorhaltungen gemacht. Aber ich habe gemerkt, daß eine gedrückte Stimmung herrschte. Es gab auch keine Verbote, daß ich etwa nicht mehr zu den Kindern gehen durfte. Nein, ich glaube, die Strafe hatte eine heilsame Wirkung gehabt. Ich habe mich von dem Tag an irgendwie umgestellt. Ich ging ja schon zur Schule, meine Hausaufgaben machte ich mit besonderer Sorgfalt, ich ging mit der Mutter in den Garten, ohne daß ich dazu aufgefordert war und die Mutter hat mir damals ein kleines Beet zurecht gemacht, was ich selbst bepflanzen durfte. Ich schaute im Holzkasten nach, ob da nicht Holz fehlte und wenn ich zu den Kindern wollte, fragte ich erst. Meist rief dann der Großvater hinterher: "Vergeß dich owwer nit!" Es war nicht eine vorübergehende Umstellung. Ich habe gemerkt, daß jeder in der Familie mein Bestes wollte und ich habe mich eben danach eingestellt und das war gut so. Wir hatten eine kleine Landwirtschaft und ich bekam eine ganz andere Beziehung zu den Tieren, die wir besaßen. Bis dahin war es so gewesen: Wenn die Mutter beim Melken war, holte ich mir ein Köbchen und die Mutter füllte es mit kuhwarmer Milch und das war ein Genuß und das war's dann. Und von nun an war's anders. Ich freute mich, wenn junge Kätzchen da waren, wenn die Glucke mit ihrer ganzen Schar im Hof herumspazierte... Ich sah manches, was ich früher nicht beachtet hatte, weil ich ja mit meinen Kameraden, wenn's irgendwie möglich war, unterwegs war. Aber der Kontakt war nicht abgerissen. Bei Gelegenheit erzählten sie mir, was sich so in meiner Abwesenheit alles ergeben hatte und ich war manchmal heilfroh, daß ich nicht dabei war. Verraten wurde allerdings nichts, das war Ehrensache. Mir hatte man ja zu Hause Arbeiten aufgetragen, die ich auch gewissenhaft ausführte und so hatte ich gar nicht mehr die Zeit, um in irgendwelche Verlegenheit zu kommen.
Aber nun möchte ich doch wieder aus meiner Schulzeit erzählen. Unser guter Lehrer, Gabriel hieß er, wir waren im 3. Schuljahr, da ist seine Frau gestorben. Sie wurde in Philippstein beerdigt. Ich glaube, es war ihr Heimatdorf. Wir nahmen alle an dieser Trauerfeier teil. Ich kann mich erinnern: Die großen Kinder haben abwechselnd einen großen Kranz geschleppt, den irgend jemand gebunden hatte. Unser Lehrer war sehr beliebt und es waren sehr viele, die es durch ihre Anteilnahme zum Ausdruck brachten. Zu Fuß von Rohnstadt ist es ein schöner Weg. Ich hab auch die kleine Irmgard, die nun ihre Mutter verloren hatte, lange nicht vergessen können. Ich weiß es nicht genau, ich glaube, unser Lehrer hat damals eine andere Lehrerstelle angenommen. Zur Aushilfe kam ein Lehrer aus Langenbach und Laubuseschbach. Unser Jahrgang war nun in die Mittelstufe übergewechselt, da zog ein neuer Lehrer namens Schweitzer mit Gattin und Sohn ins Schulhaus ein. Wir Kinder merkten bald, daß nun ein andrer Wind wehte. Der Lehrer war gerecht, aber sehr streng. Ich muß nun gestehen, ich hatte bei manchen Fächern meine liebe Not. Zum Beispiel Erdkunde und Rechnen; das waren Sachen, die gingen mir gegen den Strich und das hatte der Lehrer auch ganz schnell gemerkt und ich glaube, er hat mir's am Gesicht angesehen, wenn ich wieder mal nichts wußte. Die großen Buben mußten zum Beispiel die Landkarte über der Tafel aufrollen, ja, mit dem Oberlahnkreis wäre ich zur Not zurechtgekommen. Da rief er ein anderes Kind an die Tafel. Dann kam die große Karte dran und - wie konnte es anders sein - ich wurde aufgerufen, bekam den Stock in die Hand, mit dem die Grenzen von dem Gefragten nachgezeigt werden mußten und ich stand nun auf der rechten Seite von der Tafel und die ganze Karte war für mich ein wüstes Durcheinander von Strichen und Punkten. Dazwischen kreuz und quer alles vollgeschrieben. Oben war die Karte blau, unten auch, mittendurch braune Flecken und ich sollte Frankreich da herausfinden. Auf der Seite, wo ich stand, hatte ich mit Müh und Not "Rußland" zusammenbuchstabiert. In meiner Verzweiflung hab ich dann gesagt: "Hier ist Rußland." Natürlich war Frankreich gefragt. Er nahm mir den Stock aus der Hand und fragte mich: "Was ist die Hauptstadt von Frankreich?" Da fiel mir mein Vater ein. Er war in Frankreich im Krieg gewesen und hat immer von Verdun erzählt. Für mich war's wie ein Lichtblick und ich gab zur Antwort: "Verdun." Er fragte mich, wie ich auf Verdun komme. Ich hab's ihm erzählt und er sagte eine ganze Weile nichts und ich schaute voll Angst nach dem Stock, aber er hatte Erbarmen. 500 mal mußte ich schreiben: "Nicht Verdun ist die Hauptstadt von Frankreich, sondern Paris." Das war meine Strafe. Aber wo hätte ich so viel Papier hernehmen sollen? Wir besaßen nur ein Heft für Rechenaufgaben und nur ein Schreibheft. Aber mein lieber Bruder hat mir aus der Patsche geholfen. Er holte vom Speicher Tapetenreste und ich hab geschrieben und geschrieben. Aber trotzdem hat mich's nicht interessiert. Nur das, was meine Heimat und nähere Umgebung war, da kannte ich mich aus. In welchem Feld unsre Äcker lagen und wie der Wiesengrund hieß, wo unsre Wiesen waren, o ja, das alles hätte ich ganz genau gewußt. Das war meine Heimat, da kannte ich jeden Baum und jeden Strauch, jeden Weg, der durch Feld führte, jedes Trampelpfädchen, das durch das Wiesental ging. Hier ist meine Heimat und die große weite Welt auf der Landkarte hat mich auch weiterhin nicht interessiert.

Heute würde ich unsern Lehrer ganz anders sehen. Er selbst war ein Streber und er versuchte, auch das Äußerste aus uns herauszuholen. Ein Lob gab es nicht. Ich will es so schreiben: Der Ton macht die Musik. Was er sagte und wie er's sagte, gab uns Aufschluß, wie's gemeint war. Nur der Stock, welcher auf dem Harmonium lag, den hätte es besser nicht gegeben. Ich kann es nicht schreiben: War es Angst oder nur Respekt, was wir für unseren Lehrer empfanden? Es gab auch sehr schöne Stunden in meiner Schulzeit. Wir haben Theater gespielt; da waren wir Kinder mit Herz und Seele dabei. Gewöhnlich war's an Weihnachten und unseren Angehörigen war es damals die einzige Abwechslung in ihrem Alltag. Ich kann mich erinnern: SchulfreundeWir Mädchen haben einmal einen Rosenreigen aufgeführt, und unsere Mütter haben unzählige Rosen von Kreppapier gebastelt in den Farben rosa und rot, und die wurden auf unsere weißen Kleidchen festgenäht. Es muß sehr schön ausgesehen haben, denn es wurde noch lange davon gesprochen.

Auch Ausflüge haben wir gemacht. Wir waren einmal auf dem Feldberg. Es war günstiges Wetter und wir konnten den ganzen Taunus überblicken. Im Braunfelser Schloß, da gab es sehr viel interessantes zu sehen. Da waren an einer Wand zwei Hirschgeweihe, und der Führer hat uns damals erzählt, daß die Tiere im Kampf so unglücklich zusammen geraten waren, daß es keinen Ausweg mehr gab und beide mußten erschossen werden. Wir haben auch eine dreitägige Reise an den Rhein gemacht. Zweimal haben wir in Jugendherbergen übernachtet. Das war allerdings für uns ein großes Erlebnis und es war eine Zeitlang Aufsatzthema. Und ich finde, das war gut so. Ich kann mich auch heute noch gut an Verschiedenes erinnern.
Wenn Naturkunde angesagt war, dann machten wir einen Spaziergang durch Wald und Feld und unser Lehrer wußte von allem zu erzählen, ob es um Bäume, seltene Pflanzen oder Vögel ging. Wir hatten auch einen Schulgarten. Nicht, daß wir dort nur Bäumchen züchteten. Wenn sie groß genug waren, haben wir sie unter Anleitung des Lehrers auch veredelt.

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