| Fast jeder kennt die Märchen von den “Sieben Raben” und von “Schneewittchen und den sieben Zwergen”. Jacob Ludwig Carl Grimm und sein rund ein Jahr jüngerer
Bruder Wilhelm Karl Grimm, bekannt als die „Brüder Grimm“ haben diese Geschichten in ihrem ersten Buch “Kinder- und Hausmärchen” veröffentlicht. Viele dieser Märchen sind aus alten Überlieferungen entstanden, die von Generation zu Generation weitergegeben wurden und sie haben meist einen realistischen Hintergrund gehabt. Natürlich gab es damals noch keine Zeitungen in der Form wie heute, und es gab auch nur sehr Wenige, die diese Geschichten hätten aufschreiben können, denn der Kunst des
Lesens und Schreibens war in der damaligen Zeit, gerade in den dörflichen Regionen kaum Einer mächtig. Als die aus dem hessischen Hanau stammenden Gelehrten Brüder Grimm im Jahr 1803 in Marburg studierten, wurde ihr Interesse am Aufschreiben dieser Geschichten (Märchen) geweckt. Sie zogen also in der Gegend umher, ließen sich hier und da von der Bevölkerung interessante Geschichten erzählen und fingen an, diese mündlichen Überlieferungen aufzuschreiben.
Durchaus könnten sie auch in
Langenbach gewesen sein, denn der Studienort Marburg war selbst für die damaligen Verhältnisse nicht so weit entfernt; es lagen sowohl Langenbach als auch Marburg an der gleichen, damals noch sehr bedeutenden “Hessenstraße”, die von St. Goar bis hinauf nach Kassel geführt haben soll, wo die Brüder übrigens später ihre Zeit verbrachten. Und selbst wenn sie nie direkt in der hiesigen Gegend gewesen wären, hätte die ein oder andere Geschichte, die man sich Abends bei der Rast hier in den
Gasthäusern erzählte, von Reisenden weitergetragen werden können. Auch in Langenbach hätten sich Teile dieser überlieferten Geschichten, ich meine hier die Märchen von den “Sieben Raben” und “Schneewittchen und den sieben Zwergen” real zugetragen haben können.
Wenn diese Geschichten vor rd. 200 Jahren aufgeschrieben wurden, kann man davon ausgehen, daß die realistischen Ursprünge sich tatsächlich weitaus früher (Spätmittelalter?) zugetragen haben und von Generation zu Generation
weitererzählt wurden. Natürlich wurde dann in derartige Geschichten auch vieles hinein interpretiert, um gewisse Lehren zu vermitteln, einige Details an Brutalität auch abgeschwächt, um dem zeitgemäßen Moralempfinden zu entsprechen.
Inwiefern es sich bei Schneewittchen tatsächlich um die Stieftochter einer bösen “Königin” gehandelt hatte, ist kaum mehr nachvollziehbar, es kann jedoch durchaus sein, daß sie einem adligen Geschlecht angehörte und von irgendeiner der zahlreichen Burgen
oder Landsitze im Taunus über die damalige Rennstraße aus irgendeinem Grund in die hiesige Gegend floh. Aus Angst vor der bösen Stiefmutter? Aus Angst vor ihren Verfolgern? Durchaus möglich, denn auch schon damals gab es böse Menschen, die allein aus Neid ganz gerne den ein oder anderen unliebsamen Zeitgenossen aus dem Weg räumen wollten. Um zu verstehen, was sich damals tatsächlich alles zugetragen hat, muß man die einzig verbliebenen, aber immer wieder überlieferten Zeugnisse, die alten
Flur- und Gemarkungsnamen in die Recherchen mit einbeziehen.
In Langenbach betrieb man vor hunderten von Jahren Bergbau. Ein eindeutiges Indiz dafür ist die Gemarkungsbezeichnung “Guckes” hinten im Zehntbachtal, oberhalb des Säuwoasems. Der Begriff Guckes wird erstaunlicherweise ebenfalls von den Brüdern Grimm in ihrem 1835 erschienenen Deutschen Wörterbuch aufgeführt. Laut Brüder Grimm kommt der Begriff aus dem oberdeutschen, und bedeutet wie u.a. auch Kuckes, Kukus, Kux wie sie
wortwörtlich schreiben: “Besitzantheil an einem Bergwerke, Bergtheil”. Auch das benachbarte Flurstück “Auf der Hohl” bestätigt vom Namen her diese Vermutung. Wie wir auch wissen, waren die bewohnten Teile Langenbachs vor dem großen Brand im Jahr 1687 noch eher in Richtung Hessenstraße verlagert. Selbst auf dem recht detaillierten Ortsplan von 1801 sieht man Richtung Zehnbachtal noch Häuser, die heute, selbst in unserer Erinnerung nicht mehr existieren.
Es waren in damaligen Zeiten nur ausgesprochen klein gewachsene Menschen für die Arbeiten in einem Bergwerk tauglich. Der Begriff “Zwerge” für kleinwüchsige Menschen wurde daher nicht unbedingt
als eine Beleidigung, sondern in dem Zusammenhang wohl eher als Prädikat empfunden (siehe ebenso Dt. Wörterbuch nach Br. Grimm), zumal es für kleinwüchsige Menschen damals kaum andere Ausdrücke oder Fremdwörter gab. Gehen wir nun ein Stück von diesem damaligen “Bergwerkstheil”, Guckes, im Zehnbachtal hinauf, dann stoßen wir am Ende des Tales auf die Gemarkung “Im
Zwerggrund”. Es deutet also alles darauf hin, daß dort hinten im Talgrund eine solche Bergwerksfamilie gelebt hat, die tagsüber in diesem Langenbacher Bergwerk am Guckes arbeitete. Vielleicht sogar mehrere Familien (?).
Daß “Schneewittchen” auf ihrer Flucht aus dem Taunus bei diesen “Zwergen” Zuflucht gefunden haben könnte, liegt nah, denn der Zwerggrund befindet sich unweit der ehemals aus dem Taunus führenden Rennstraße, gleichzeitig aber auch in
beruhigender Distanz zum damaligen Ortskern. Ob es nun genau sieben Zwerge waren, wage ich nicht zu behaupten, aber Langenbach liegt, egal von wo man es aus betrachtet, also ob von Hanau oder Marburg aus, irgendwie immer “hinter den sieben Bergen”. Zumal Langenbach auch von sieben Bergen und sieben Wäldern umgeben, in sieben Täler gebettet und von sieben Bächen durchzogen wird. Die Zahl sieben scheint hier auch eine wiederkehrende Bedeutung haben
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(Der Zwerggrund - ehem. Wohnort der sieben Zwerge?)
Wie man aus der Geschichte weiter erfährt, lebte Schneewittchen bei den Zwergen zunächst sicher, bis ihr Zufluchtsort irgendwann doch entdeckt wurde. Möglicherweise wurde sie darauf tatsächlich heimtückisch vergiftet (Arsen?) und sie starb. In der Geschichte ist davon die Rede, daß sie in einen Glassarg gebettet wurde. In älteren bzw. anderen Varianten des Märchens ist jedoch nicht von einem Glassarg, sondern von einem “Glasberg” die Rede.
Wandern wir nun von unserem Langenbacher “Zwerggrund” ein kleines Stückchen nordwestlich kommen wir erstaunlicherweise tatsächlich zu einer Gemarkung die sich noch heute “Glasberg” nennt. Zufall? Vielleicht befand sich im oberen Langenbachtal eine Waldglashütte wo man in alter Zeit Glas schmolz. Die am Glasberg angrenzenden Gemarkungsnamen “Eschbacher Sand” und “Vogelsand” deuten auf das Vorkommen der zur Glasherstellung benötigten
Rohstoffe hin. Als Glasberg wird jedoch auch bereits seit der Zeit der Kelten die allgemeine Stätte der Toten, der Glasberg der Ewigkeit bezeichnet. So heißt es u.a. “...Für uns Menschen ist es der Herbst, das Alter, die Erinnerung und Klärung, als Zeitqualität im Lebensrad steht die schwarze Göttin für innere Stärke, inneren Frieden, Gelassenheit und letztlich für
ewige Dauer. Sie prüft und verwirft alles, was dem Göttlichen nicht entspricht, formt nach seinem Willen und webt die Linien des Lebens neu. Hier wohnt die Uralte Frau, die den Glasberg der Ewigkeit bewacht und eine ihrer höchsten Qualitäten nennen die Buddhisten Nirwana, allumfassende Leere....”
Und daß die Kelten hier heimisch waren, zeigen bereits die Flurnamen “Görnhöll” und “Gilling”. Otto Huth schreibt
außerdem zum Glasberg im Märchen-Lexikon u.a.: “Ein zentrales Symbol der europäischen Volksmärchen ist der rätselhafte Glasberg. Man kann annehmen, dass es für das Verständnis der Volksmärchen überhaupt von wesentlicher Bedeutung ist, den Sinn des Glasberg-Symbols zu erkennen. Der Glasberg ist nach der Schilderung der Märchen ein steiler, hoher, glatter Berg. Er ist also unbesteigbar, und doch ist es die
Aufgabe des Märchenhelden, den Berg zu ersteigen. Das gelingt ihm auch, und zwar auf verschiedene Weise: zu Fuss oder zu Pferd gelangt der Märchenheld hinauf oder auch mit Hilfe einer besonderen Leiter, oder er fliegt hinauf, nachdem er sich in einen Vogel (Schwan, Rabe) verwandelt hat. Ergebnisse der vergleichenden Religionswissenschaft legen es nahe, dass Glasberg und Glasinsel identisch sind. Neben der Toteninsel finden wir öfter den Totenberg in ein und demselben
Kulturraum. Die Erklärung gibt der kosmogonische Mythos, demzufolge die Urerde eine aus dem Meer sich erhebende Insel, und zwar ein kleiner Stufenhügel ist....”
War also der Glasberg die letzte Ruhestätte Schneewittchens?
Während man die Geschichte vom Schneewittchen nicht nochmal ausführlich erzählen muss, ist die Geschichte von den
“sieben Raben” nicht unbedingt jedem geläufig, sie passt aber in Bezug auf die Gemarkungsnamen ebenfalls zu den lokalen Gegebenheiten. Die Geschichte von den sieben Raben ist von den Brüdern Grimm etwas früher aufgeschrieben worden.
“Es war einmal eine Frau die hatte sieben Söhne und wünschte sich so sehr ein Mädchen und nach einer Zeit gebahr sie
auch ein Mädchen. Der Vater schickt seine Söhne Taufwasser für das Töchterchen zu holen. Da diesen jedoch der Krug in den Brunnen fällt und sie nicht zurückkommen, spricht er in seiner Angst: „Ich wollte, dass die Jungen alle zu Raben würden.“ Der gedankenlose Wunsch wird umgehend erfüllt – der Vater sieht sieben Raben durch die Lüfte flattern. Das Töchterchen wächst auf, ohne zu wissen, dass es Brüder gehabt hat, denn die Eltern verschweigen ihr deren Schicksal.
Endlich erfährt es durch andere Leute was geschehen ist, und dass diese ihr die Schuld an dem Vorgefallenen geben. Obwohl die Eltern ihr erklären, sie könne nichts für das Verhängnis, fühlt es sich weiter schuldig und macht sich allein auf den Weg, die Brüder zu erlösen. Das Mädchen durchwandert die ganze Welt, kann ihre Brüder aber nicht finden. Endlich, die Welt ist zu Ende. Sie kommt zur Sonne, dann zum Mond, die ihr aber mit ihrer Hitze und Kälte beide feindlich gesinnt
sind. Die Sterne jedoch sind ihr freundlich gesinnt, und der Morgenstern gibt ihr ein Hinkelbeinchen, mit dem es den Glasberg aufschließen könne – dort seien die Brüder zu finden. Am Glasberg angekommen, hat das Mädchen das Beinchen, den Schlüssel, verloren. In ihrer Not schneidet es sich einen Finger ab, steckt ihn in das Schloss, und das Tor öffnet sich. Drinnen trifft es auf einen Zwerg, der sagt ihr, die sieben Raben seien nicht zu Haus, aber es deckt ihr den Tisch mit sieben
Tellern und Bechern. Das Mädchen nimmt von jedem etwas, und in den letzten aber lässt sie ihren Ring fallen. Als die Raben zurückkehren, wollen sie essen, bemerken aber, dass jemand ihnen zuvor gekommen ist. Sie sprechen: „Wer hat von meinem Tellerchen gegessen? Wer hat aus meinem Becherchen getrunken? Das ist eines Menschen Mund gewesen.“ Der siebente Rabe findet auf dem Grund seines Bechers den Ring, erkennt ihn und wünscht sich die Schwester herbei. Sie tritt
hervor, und die Brüder sind erlöst.”
Auch hier spielt der Glasberg wieder eine wichtige Rolle. Handelt es sich bei den Brüdern hier nicht vielleicht um die gleichen sieben Zwerge? Genug Freiraum für Spekulationen und Interpretationen wären jedenfalls gegeben... Desweiteren stellt sich die Frage, ob nicht noch weitere Märchen der Brüder Grimm in ihrem Ursprung auf eine oder mehrere wahre
Begebenheiten im Ort zurückzuführen sind. Zum Beispiel das Märchen “Der Wolf und die sieben Geißlein”. Auch hier findet man zunächst die Zahl “sieben” wieder. Und... was erstaunlich ist... von den nur sieben Bächen hier in Langenbach haben wir sowohl einen “Wolfsbach” als auch einen “Ziegenbach”. Auf welche Begebenheiten auch immer die Ursprünge der Märchen zurückzuführen sind, ...
... Fakt ist: Wir hier in Langenbach haben diesen im ursprünglichen Märchen beschriebenen Glasberg, wir haben ein Bergwerk (Gukkes) gehabt, unweit davon den Zwerggrund, wir liegen nicht nur umgeben von, sondern auch hinter den sieben Bergen und noch dazu ganz in der Nähe des ehemaligen Studienortes der Brüder Grimm.
(Jürgen Caspari)
Weiterführende Links:
- Das deutsche Wörterbuch der Brüder Grimm - Langenbacher Gemarkungsnamen - Sieben Bäche in Langenbach
- Sieben Täler in Langenbach - Sieben Berge in Langenbach - Deutsches Märchenlexikon zum “Glasberg” (von Otto Huth)
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